Los 3
Florilegium aus den "Epistulae ad familiares".
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Auction 67
Florilegium aus den "Epistulae ad familiares". Lateinische Handschrift auf Pergament. Mittel- oder Norditalien, Mitte 15. Jhdt. Blattgr. 15,5 x 10,5 cm, Schriftspiegel ca. 10 x 6 cm. Mit Wappenminiatur mit Gold und zahlr. zweizeiligen Initialen in Rot und Blau mit Fleuronnée. Incipit in Rot und Blau, Hervorhebungen in Rot. Durchgehend rubriziert. 82 Bl. 21 Zl. Beschäd. Ldr. d. Zt. über Holzdeckeln mit Streicheisenlinien, 9 (von ursprünglich 10) kleinen Buckeln sowie einer (defekten) Schließe. (103) Der Pergamentcodex in handlichem kleinen Oktavformat mit einer Auswahl von insgesamt 65 Stücken aus den "Epistulae ad familiares" von Cicero ist wohl als luxuriöses Schulbuch eines Adeligen anzusprechen. Die Formen der vollendeten humanistischen Minuskel weisen - nach einer dankenswerten Mitteilung von Mirella Ferrari - auf eine Entstehung im Kreis der Humanisten von Mittel- oder Norditalien um die Mitte des 15. Jahrhunderts. Der Buchschmuck wurde dagegen von einem Rubrikator in konventionellen gotischen Formen ausgeführt.{br}Die bislang nicht publizierte Handschrift stammt aus Privatbesitz (kein Eintrag in der Lost-Art-Datenbank der Stiftung Deutsches Zentrum Kulturgutverluste). Die hochwertige Ausstattung, vor allem aber die vollständige Erhaltung im ursprünglichen Einband sind von attraktiver Wirkung. Das Wappen des Auftraggebers oder Besitzers am Fuß der ersten Seite ist ebenso wie die Initialen mit ausgreifenden Federverzierungen am Beginn nahezu jedes Briefes in hoher, professioneller Qualität ausgeführt. Im Text sind alle Initialen eingetragen, lediglich der freie Platz für die große P-Initiale am Beginn des ersten enthaltenen Briefes wurde nicht gefüllt. Die Briefanfänge sind außerdem durch die Nennung des Adressaten in roter Textschrift hervorgehoben. Nur für Incipit (und den Beginn des ersten Briefes) und Explicit wurde als Auszeichnungsschrift die Capitalis quadrata verwendet. Dabei unterliefen dem Schreiber im Incipit offensichtlich Fehler, die durch Rasuren nur teilweise korrigiert wurden. Vermutlich begann er mit der Adresse des Briefes an Lentulus, besann sich aber dann darauf, daß das Incipit dem gesamten Briefcorpus gelten sollte.{br}Der Text verteilt sich auf acht Lagen zu jeweils fünf Doppelblättern; am Ende jeder Lage finden sich feine vertikale Reklamanten. Vorgebunden ist ein Doppelblatt, auf dem in etwas späterer Zeit einzelne Namen eingetragen wurden, wohl Besitzvermerke; sie sind stark abgerieben oder verwischt, so daß sie für uns nicht mehr lesbar sind. Vor der Bindung wurden die Blätter ein wenig beschnitten; erkennbar ist dies an der etwas angeschnittenen Wappenzeichnung sowie in Einzelfällen minimal angeschnittenem Fleuronée. Dennoch bieten die Textseiten mit ihren breiten Rändern einen harmonisch ausgewogenen Eindruck. Der Schriftspiegel mit Doppellinien an beiden Seiten ist meist blind regliert, teils auch in heller Tinte. Die zierliche breite Textschrift erzeugt ein klares Schriftbild mit deutlichen Worttrennungen; es fallen jedoch zahlreiche Bogenverbindungen und Kürzungen auf, ebenso die Verwendung der nicht in humanistischem Sinn bereinigten Formen "michi" und "nichil". Verbesserungen, interlinear und am Rand, finden sich nur bis zum Beginn der zweiten Lage; die Durchsicht von einem Korrektor wurde offensichtlich nicht vollendet. Auf den ersten sieben Textblättern wurden Marginalien von einer zeitgenössischen Hand eingetragen, ebenfalls in einer humanistischen Minuskel, aus deren Kanon das doppelstöckige e jedoch herausfällt.{br}Den schlichten Einband, geziert mit sternförmig angeordneten doppelten Streicheisenlinien und kleinen rosettenförmigen Buckeln, erhielt die Handschrift wohl bald nach ihrer Fertigstellung. Im 15. Jahrhundert findet sich ein ähnlicher Dekor häufig bei Einbänden aus Norditalien. Von einst vorhandenen Vorsätzen zeugen die Abklatsche einer gotischen Textschrift und Papierreste auf den Innendeckeln.{br}Das Wappen auf der ersten Seite ist als Vollwappen in präziser Federzeichnung mit Deckfarben und Vergoldung (leider stark berieben) ausgeführt. Heraldisch rechts wird es von einem aufrechten Löwen als Wappenhalter flankiert; heraldisch links ist ein Schriftband über drei Akanthusblätter geschlungen, die jeweils in einem Goldpollen enden. Zweifellos sollte das leergebliebene Band eine Devise aufnehmen. Der Wappenschild ist von einem gestürzten Keil geteilt, möglicherweise wurde die zugehörige Wappenfigur nicht eingezeichnet. Die Helmzier besteht aus fünf langen Federn, die Helmkrone weist drei Blattzinken auf. Das System der Rangkronen ist im 15. Jahrhundert nicht voll ausgebildet, doch war der "moderne" Bügelhelm wohl noch dem Adel vorbehalten.{br}Von dem insgesamt 16 Bücher umfassenden Briefcorpus sind in unserem Codex ausschließlich Briefe aus den ersten sieben Büchern enthalten. Die Prinzipien der Auswahl und Anordnung können hier nicht geklärt werden. Es fällt jedoch auf, daß die Briefe aus den einzelnen Büchern und an einzelne Adressaten nicht immer zusammenstehen, ja daß einer der Briefe an Lentulus (Buch I, 5) zweimal enthalten ist. Vorhanden sind Briefe aus Buch I an Lentulus (10, 4, 5, 6, 7), aus Buch II an Curio und Caelius (1, 2, 4, 6, 7, 12, 13, 11, 9, 10, 14, 15, 16, 18, 19), aus Buch III an Appius (1, 2, 5, 13), aus Buch IV aus den Briefwechseln mit Sulpicius, Marcellus, Figulus und Plancius (5, 6, 10, 11, 12, 1, 13, 14, 8, 7, 9, 15), aus Buch V aus den Briefwechseln mit Vatinius, Lucceius, Metellus, Antonius, Sestius, Pompeius, Crassus, Titius, Sittius, Fadius und Mescinius (9, 10, 13, 14, 1, 2, 4, 3, 5, 6, 7, 8, 12, 11, 16, 18, 19, 21), aus Buch VI an Caecina, Furfanus und Trebianus (9, 7, 11) und aus Buch VII an Marius, Caesar und Trebatius (4, 5, 17, 21).{br}Am Schluß steht ein fingierter, Cicero untergeschobener Brief, wohl aus der Feder eines Humanisten. Obwohl laut Überschrift an Trebatius adressiert, sind die enthaltenen Schmähungen und Beschimpfungen wegen schlechten, nicht tugendhaften Verhaltens an mehrere Personen gerichtet; am Ende heißt es, sie verdienen es nicht, "mei domini et patres carissimi" genannt zu werden. Der Verfasser versuchte sicher die rhetorischen Künste Ciceros nachzuahmen. Es muß offenbleiben, welchen historischen Bezug er dabei herstellen wollte. Die Anordnung des kurzen Briefes als letztes Stück des wohl Studienzwecken dienenden Florilegiums weist aber möglicherweise auf eine zweite, versteckte Bedeutungsebene. So könnten sich die moralischen Ermahnungen augenzwinkernd auch an die lernenden Leser richten. Anlaß zu dieser Interpretation gibt nicht zuletzt die Passage "meis profectibus exerceri vos rogo, sed oblivioni traditis me" (daß ihr dank meiner Fortschritte euch übt, bitte ich euch, aber ihr übergebt mich dem Vergessen). (Für Hilfe bei der Transkription und Übersetzung danken wir Wilfried Stroh.){br}Die Verwendung der Handschrift im Unterricht bezeugen auch die erwähnten Marginalien. Offensichtlich handelt es sich um Notizen eines Studierenden nach den Ausführungen seines Lehrers. So lautet ein Eintrag zu einem Brief an Curio (Buch II, 6): "Haec epistula est accurate et diligenter scripta, quia plurimum intereat Ciceronis, ut Milo fieret Consul. Nondum erat auditum causa, cur mittat literas tam cito."{br}Die als "Epistulae ad familiares" bekannte Sammlung von Briefen Ciceros erhielt diese Bezeichnung erst durch die Humanisten. Sie umfaßt Briefe an Freunde und politische Weggefährten aus den Jahren 63 bis 43 v. Chr.; in der heute überlieferten Form wurde sie erst nach Ciceros Tod durch seinen freigelassenen Sklaven und Sekretär Tiro herausgegeben. Im Mittelalter hatte sich die Überlieferung auf die philosophischen Schriften des großen Staatsmannes konzentriert. So war die Auffindung des gesamten Corpus im Jahr 1393 durch den Florentiner Kanzler Coluccio Salutati in einem Codex des 9. Jahrhunderts in Humanistenkreisen eine Sensation. Salutati ließ die Handschrift zerlegen, um durch mehrere Schreiber möglichst rasch eine Kopie zu erhalten. Sofort setzte die Rezeption und Kommentierung ein. Im 15. Jahrhundert entstand eine Fülle von Manuskripten mit Abschriften des gesamten Textes, kurzen Exzerpten oder umfangreichen Anthologien. Bereits die Entdeckung von Ciceros Briefen an Atticus durch Petrarca im Jahr 1345 hatte den Humanisten ganz neue Einsichten in die innen- und außenpolitischen Verhältnisse der für sie als vorbildlich geltenden Staatsform der Römischen Republik ermöglicht, ihre Kenntnisse der Biographien der beteiligten Staatsmänner erweitert und gleichsam Einblicke in die Persönlichkeit des verehrten Vorbildes gewährt. Nicht zuletzt entfachten die Funde das Interesse am Genre des literarischen Briefes (vgl. P. L. Schmidt, Die Rezeption des römischen Freundschaftsbriefes [Cicero - Plinius] im frühen Humanismus [Petrarca - Coluccio Salutati], in: Ders., Traditio latinitatis, Stuttgart 2000, S. 142-165).{br}Ein Beispiel dafür liefert auch der bislang unbekannte, vorgeblich von Cicero stammende Text am Ende der Handschrift, vielleicht sogar ein Beleg für das Aufbrechen mittelalterlicher Moralvorstellungen durch das Mittel der Parodie.
Zustand
- Innendeckel mit Papierresten und Abklatschen von entfernten Vorsätzen, die Ledereinschläge sowie das erste und letzte Blatt mit einzelnen Fraßspuren, gering fleckig. - Siehe Abbildungen.